Essay

Ein deutscher Mann

Eine Einladung ans Leben wieder ins Tanzen zu kommen

Brief zum Tag der Deutschen Einheit 2018

 

Liebes Leben,

 

Du hast mich als Mann in der Welt gewollt, ich bin in Deutschland geboren. Seit ich ein Junge war, stelle ich Dir eine Frage:

Wie kann ich beides vollständig sein?

 

Ein deutscher Mann.

 

Es ist 2018, und ich habe mich entschieden. Die Entscheidung fiel vor langer Zeit, als ich Teenager war und zum ersten Mal die Bilder vom Holocaust gesehen hatte.

 

Als deutscher Mann stelle ich mich an den Abgrund der Taten, die geschehen sind. Ich stelle mich als Zeuge für die unerledigten Energien der Geschehnisse von 1939 bis 1945 und davor zur Verfügung.

 

Ich mache das, damit die vereiste Traumaschicht, die bis heute in meiner Familie, in der Gesellschaft und in mir wirkt und zu einer persönlichen und kollektiven Vereinzelung und Taubheit führt, schmelzen kann.

 

An der Trauma-Schlucht stehe ich auf der Seite der Täter, da ich in eine Familie hineingeboren wurde, die geistig und/oder körperlich das Herrschafts- und Zerstörungssystem der Nationalsozialisten mit vorbereitet und unterstützt hat.

 

Mein Urgroßvater Karl diente dem Kaiser in Berlin. Seine strahlend blaue Uniformjacke von 1911 hängt bei mir am Schrank. Meine beiden Großväter Rudolf und Bruno zogen für die Wehrmacht in den Krieg und waren Mitglieder der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP).

 

Ich selbst bin kein Täter aus dieser Zeit. Ich bin 1967, 22 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, geboren. Doch durch meine Familie und meine Kultur bin ich Teil des deutschen Nervensystems. Ich bin also mit jeder Zelle mit dem Schatten und dem Licht Deutschlands verbunden. Dafür stehe ich gerade.

 

Deutsche Männer aus der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit haben, gemeinsam mit deutschen Frauen, das Herrschaftssystem aufgebaut, das zur Unterdrückung und Tötung von Millionen Menschen führte.

 

Als deutscher Mann des 21. Jahrhunderts stelle ich mein Nervensystem und meine fühlende Wahrnehmung zur Verfügung, um die ungefühlten Taten der Vergangenheit in der heutigen Zeit mitfühlend zu bezeugen. Ich verbinde mich dabei mit anderen Männern und Frauen, die sich dafür ebenfalls zur Verfügung stellen.

 

Ich kann dabei nichts wieder gut oder rückgängig machen. Ich kann einzig dazu beitragen, dass das, was ist, fühlbar ins Bewusstsein zu bringen und damit zu erlösen.

 

Die Seelen meiner Vorfahren sehnen sich danach, dass ich diese Arbeit mache. Sie unterstützen mich darin mit ihrer ganzen Liebe.

Sie helfen mir auch dabei, genau wie meine Freunde, meine eigenen Schatten zu sehen.

 

Durch Forschungsarbeit in Gruppen und im therapeutischen Rahmen nehme ich meine eigene Fähigkeit zu Liebe und Gewalt und Mut und Zerstörung wahr und nehme sie zu mir.

 

Das wachsende Bewusstsein für meine eigenen Möglichkeiten für Liebe und Gewalt, die ich auch energetisch ausüben kann, hilft mir dabei, in Demut auf meine Vorfahren zu schauen. Es hilft mir Ja zu meinen Vorfahren zu sagen und in Liebe mit ihnen verbunden zu sein.

Je mehr ich meinen eigenen Schatten und mein eigenes Licht wahrnehme, desto freier werde ich.

Denn erst, wenn ich men Schatten und mein Licht erkenne, kann ich mich für eines von beidem entscheiden.

 

In dieser Freiheit im Herzen und im Handeln löse ich mich vom kollektiven Schatten, der aus dem Schatten vergangener Handlungen und Unterlassungen entstanden ist. Ich bin frei, mit meinem eigenen Schatten und Licht zu handeln, während ich mit dem kollektiven Schatten und Licht verbunden bin. Ich verneige mich vor der Entscheidungsfreiheit im Leben und der Verbundenheit mit meinen Ahnen.

 

Die Verbindungen zu meinem Herzen, zum Göttlichen, zu Freunden und meiner Partnerin helfen mir, mein Ja zu meinen Wurzeln und mein Nein zu schädigenden Taten meiner Vorfahren zu finden.

 

Als deutscher Mann der Gegenwart entscheide ich mich zwischen Ja und Nein und zwischen Licht und Schatten.

 

Ich verbinde mich mit anderen Menschen, auch aus anderen Ländern der Erde, in der gemeinsame Intention zur Heilung des kollektiven Traumas, in dem wir alle stehen, beizutragen. Durch die Verbundenheit bekomme ich die Kraft, im Hier und Jetzt in Deutschland zu sein und gemeinsam ein größeres Gefäß von Bewusstheit zu schaffen.

 

Das größere Gefäß entsteht nicht nur durch jeden Einzelnen von uns. In uns und in unserer Mitte laden wir die höhere Weisheit ein zwischen uns und in uns zu wirken und von ihr geführt zu werden.

 

In diesem Bewusstsein des Raums in mir und mit anderen, in der Klarheit für mein Sein und Handeln, stelle ich mich als fühlender Zeuge zur Verfügung.

 

Die Gefühle und Ereignisse, die dabei aus der Vergangenheit auftauchen, brauche ich nicht in mir zu verarbeiten. Das schadet mir und ändert womöglich nichts. Stattdessen nehme ich die unerlösten Gefühle und Ereignisse der Vergangenheit im Raum der Bewusstheit, der wie ein Gefäss in mir und zwischen anderen entsteht, fühlend wahr.

 

Ich lasse das in Stille geschehen oder gebe dem eine Stimme.

 

Der gemeinsame bewusste Raum schafft ausreichend Platz, um neue Bewegungen in Gefrorenem entstehen zu lassen. Mit der Energie jedes Einzelnen und des Höheren kommt wieder ins Fließen, was zuvor gehalten war.

 

Liebes Leben,

als deutscher Mann, als Therapeut, der mit kollektiven Traumata in Berlin arbeitet, als berührbarer und liebender Mensch, höre ich eine Einladung von Dir: „Lass uns tanzen im Schatten und Licht!!“ Ich bin dabei. Du bist auf meiner Tanzkarte. Als deutscher Mann bin ich eine Einladung ans Leben wieder ins Tanzen zu kommen.

 

Herzlich, Joachim Christoph Wehnelt, Berlin, 3. Oktober 2018

 

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