8. Mai 1945
Haben wir die totale Niederlage schon gefühlt?
Im vergangenen Jahr hörte ich, wie Anita Lasker-Wallfisch darüber sprach, wie sie das Todeslager von Auschwitz überlebt hatte. Sie hatte Cello im Mädchenorchester von Auschwitz gespielt und wurde gerettet.
Während ich ihren Worten auf der Bühne lauschte, die mich wie aus der Ferne erreichten, landete mit einem etwas in mir: Meine Vorfahren mussten vernichtend geschlagen werden, damit Anita Lasker-Wallfisch mit uns reden konnte.
Plötzlich konnte ich körperlich spüren, was vorher vor allem mental klar war; wie notwendig unsere Niederlage gewesen war.
Mein Vater war 7 Jahre alt als sein Vater im Krieg getötet wurde. Ich verneige mich vor der tiefen Trauer meines Vaters. Sie ist auch in mir lebendig.
Gleichzeitig war der Tod vieler deutscher Soldaten notwendig gewesen, damit Anita Lasker-Wallfisch überleben konnte. Wenigstens sie.
Wenigstens sie.
Jetzt jährt sich der Jahrestag unserer Kapitulation wieder und zwischen dem Tod meines Großvaters und der Notwendigkeit unserer totalen Niederlage ist die innere Spannung in mir leichter geworden. Sie bildet sich in mir als Kontrast von zwei Wahrheiten ab, die beide Liebe heißen; die familiäre Liebe des Enkels zu seinem Großvater und die menschliche Liebe des Herzens zu Anita Lasker-Wallfisch. Es tut mir gut, wenn beides da sein kann.
Eine Taubheit in mir bleibt. Ich habe den Eindruck, dass ich damit nicht alleine bin.
Wir Deutschen wurden schon bald nach dem Krieg zu einer der wirtschaflich stärksten Nationen der Welt. Dieser machtvolle Erfolg mag es schwerer machen, Scham und Trauer über die Taten unserer Ahnen zu fühlen. Wir sind wieder wer.
Wer sind wir? Und vor allem; wie sind wir?
Die Deutschen wollten den totalen Sieg. Haben wir die totale Niederlage schon gefühlt?
Wenn es um Krieg und Holocaust geht, treffe ich immer wieder auf eine emotionale Eisschicht, in mir und in anderen Deutschen. Freunde aus den USA erzählen mir, dass sich das oft in unseren Gesichtern widerspiegelt. Die Eisschicht wird langsam sichtbarer und spürbarer.
Wie geht es Ihnen damit?
Herzlich, J.C. Wehnelt, Sieben Sinne Berlin, zum 8. Mai 2018
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